70. An dieser Stelle zeigt sich, wie heterogen die Gruppe
der Astrologen ist, denn es gibt eine nicht unbeträchtliche
Gruppe von Astrologen, die auf die gerade gestellte
Frage eindeutig mit "Ja" antworten würden.
Ihrer Meinung nach ist Astrologie "Offenbarungs-Wissen",
das genausowenig einer Prüfung bedarf wie das
Evangelium. Gegen diese Haltung ist, wenn sie unmißverständlich
deutlich gemacht wird, nichts einzuwenden. Ich würde
mir nur wünschen, daß die Art, wie Astrologie
dann betrieben wird, auch im Einklang mit dieser Grundhaltung
steht, daß z. B. die gleiche Toleranz möglich
ist, wie sie sich im Verhältnis der großen
Weltreligionen zueinander heute weitgehend eingebürgert
hat.
71. Weiter schreibt FROMM: " .... besteht doch
ein deutlicher Unterschied zwischen der Beobachtung
eines Menschen in seiner Totalität und Lebendigkeit
und der Beobachtung gewisser Aspekte seiner Persönlichkeit,
die man von der Gesamtpersönlichkeit abgetrennt
hat und nun ohne Beziehung auf das Ganze untersucht.
Man kann dies nicht tun, ohne die isoliert untersuchten
Aspekte zu entstellen, weil sie mit jedem anderen Teil
des Systems Mensch in einer ständigen Interaktion
stehen und außerhalb des Ganzen nicht zu verstehen
sind. ... Man kann diesen oder jenen Aspekt untersuchen,
aber alle Ergebnisse, die man auf diese Weise erreicht,
sind notwendigerweise falsch." (1979, 23 ff)
72. Die Entwicklung der Wissenschaften vollzog sich,
wie die Entwicklung unseres Wissens überhaupt,
in der Form der "Ausdifferenzierung": Im
zunächst Einheitlichen werden unterschiedliche
Bestandteile erkannt, für die dann jeweils unterschiedliche
Gesetze oder Regeln gelten. So differenziert ARISTOTELES
die einheitliche Vorstellung des Seins, welches "in
sich ruht" und dadurch das Werden zu einem Problem
macht, in die zwei "Aspekte" Substanz
und Akzidenz. (HIRSCHBERGER1965, 188). KANT differenziert
die zunächst einheitliche Erfahrung von Dingen
in eine Erfahrung "a priori" und eine Erfahrung
"a posteriori", und für beide Arten
der Erfahrung gelten andere Gesetzmäßigkeiten.(HIRSCHBERGER1969,268f)
In den Naturwissenschaften vollzog sich eine ähnliche
Differenzierung von zunächst als Einheit angesehenen
Erscheinungen. So kennen wir heute statt der 4 Elemente
des EMPEDOKLES (492 v.Chr.): Feuer, Wasser, Erde und
Luft, das periodische System mit mehr als 90 Elementen.
In diesem Prozeß der fortschreitenden Differenzierung
hat der Mensch gelernt, Dinge nicht für das zu
nehmen, als das sie "erscheinen": Ein Regenbogen
ist "in Wirklichkeit" eine optische Täuschung
(eine Brechung des Sonnenlichts in den Regentropfen),
wir können also nicht seinen Anfang finden und
dort auf ihn hinaufsteigen. "In Wirklichkeit"
sind da nur Regentropfen und weißes Sonnenlicht.
- Die Maschine, an der ich schreibe, "scheint"
nur solide. "In Wirklichkeit" besteht sie
hauptsächlich aus Zwischenräumen: Sie besteht
nämlich aus Atomkernen, die von Elektronen umkreist
werden, die im Verhältnis Kerndurchmesser zu Abstand
weiter entfernt sind als der Mond von der Erde.
Aber die Zwischenräume, um die es hier geht, sind
"andere" Zwischenräume als die zwischen
Billard-Kugeln, die man einfach näher zusammenlegen
kann, die man ohne Probleme "dichter packen"
kann. Im Bereich unserer Alltagserfahrung sind mit
dem Wort Zwischenraum Assoziationen verknüpft,
die im Bereich der Elementarteilchen nicht übertragbar
sind. Man müßte das Wort also, angewendet
auf Elementarteilchen, in Anführungsstriche setzen.
Wenn wir den Begriff Zwischenraum, gebildet am Beispiel
unserer Alltagserfahrung, auf Bereiche übertragen,
die der ursprünglichen Erfahrung "unähnlich"
sind, dann müssen wir sehr vorsichtig mit unseren
Schlüssen sein.
Auf jeder neuen Reflexionsstufe muß der Mensch
offensichtlich erneut lernen, Dinge nicht für
das zu nehmen, als was sie "erscheinen":
Wird zunächst das sinnliche Phänomen "zu
naiv" interpretiert, so besteht auf der nächsten
Reflexionsstufe die Gefahr, daß die Modelle,
die man sich von der Wirklichkeit macht, mit der Wirklichkeit
selbst verwechselt werden. So ist z. B. das BOHRsche
Atom-Modell nur eine "Annäherung" an
die Wirklichkeit. Das Atom ist nicht ein Kern aus Protonen
und Neutronen, der von Elektronen "umkreist"
wird. Das Modell ist eine gedankliche Hilfskonstruktion,
mit der man sich verschiedene feststellbare Verhaltensweisen
von Atomen anschaulich machen kann. (WEIZSÄCKER
1971, 307)
Dieser Reifikation genannte Irrtum, hypothetische Konstrukte
als reale Entitäten mißzuverstehen,
scheint z. B. bei vielen Anhängern der Psychoanalyse
verbreitet gewesen zu sein, so daß Sigmund
FREUD sich veranlaßt sah, verschiedentlich davor
zu warnen, z. B.in bezug auf das hypothetische Konstrukt
des "Unbewußten" (FREUD 1905)oder in
bezug auf den Begriff "Regression": "Ich
hoffe, wir sind weit entfernt, uns über die Tragweite
dieser Erörterungen zu täuschen. Wir haben
nichts anderes getan, als für ein nicht zu erklärendes
Phänomen einen Namen gegeben." (FREUD 1900
und 1923)
73. "Es hat in der Vergangenheit ganz andere Arten,
Wissenschaft zu betreiben, gegeben als die, welche
uns durch den heutigen Wissenschaftsbetrieb vorexerziert
wird. Historische Beispiele für andere Arten von
Naturwissenschaft bilden etwa: die aristotelische Physik;
die Astronomie des Ptolomäus; die Optik von Newton;
die Elektrizitätslehre von Benjamin Franklin;
die Phlogistonchemie. Der heutige Naturforscher hat
die Neigung, hier einfach von veralterten Anschauungen
oder sogar von Mythen zu sprechen. Zweierlei kann man
einer solchen Einstellung entgegenhalten: Erstens:
ist diese Grenzziehung unfundiert; denn wie kann man
von Mythen sprechen, wenn diese, wie sich zeigen läßt,
durch ähnliche Methoden und aufgrund gleicher
Vernunftgründe geglaubt wurden wie die heutigen
wissenschaftlichen Erkenntnisse? Zweitens: Welche Garantie
haben wir denn, daß man in näherer oder
fernerer Zukunft über Relativitätstheorie
und Quantenphysik nicht ähnlich denken wird? Zu
behaupten, dies sei ausgeschlossen, wäre nichts
weiter als Ausdruck intellektuellen Hochmutes und überdies
eine irrationale Verabsolutierung der heute üblichen
Methoden sowie der heute für gültig angesehenen
Auffassungen." (STEGMÜLLER 1979, S. 736 f)
74. "Der Empirismus ist ein Produkt der Eingefahrenheit
geläufiger Erfahrungsformen. Er verfällt
der Verführung der 'Evidenz', mit der ihm das
Totum seiner Erfahrungsweise als das allein erfahrungsmäßig
Zugängliche erscheint. Er weiß nichts von
der Geschichtlichkeit der Erfahrung, nichts von der
Veränderung, Entwicklung, ja von den revolutionären
Durchbrüchen möglicher Erfahrung in erweiterter,
medialer Sensitivität und macht sich in dem Typus
von Erfahrung breit, in dem ihm zufällig die Leistungsfähigkeit
von Erfahrung überhaupt aufgegangen ist. Gewöhnlich
sind dies die dinglichen Erfahrungsweisen, während
die höheren Erfahrungsformen der Personalität,
der Historizität, der Sozialität und der
Freiheit 'spekulativ' oder 'subjektiv' erscheinen,
obwohl sie es nicht sind. " (ROMBACH 1974a, 44)
Dieser hier erwähnte Empirismus würde allerdings
dem "Evidenz-
Erleben" des Astrologen gegenüber ebenfalls
von einer "Verführung der Evidenz" sprechen,
nur mit umgekehrter Argumentation.
75. Zitiert nach EYSENCK/NIAS 1982, 106
76. Nach KERLINGER (1973, 529) bedeutet quantifizieren,
einem Untersuchungsgegenstand eine Zahl zuzuordnen.
In dieser allgemeinsten Bestimmung ist implizit seine
Behauptung: "All materials are potentially quantifiable"
(a. a. O.) bereits enthalten, denn wenn dabei über
die Dimension, hinsichtlich derer quantifiziert werden
soll, nichts ausgesagt wird, ist dies immer möglich
- und sei es dadurch, daß ich mein Material in
eine Rangfolge meiner Präferenz oder den Zeitpunkt
meines ersten Kennenlernens bringe. Ich nenne diese
Bestimmung von Quantifizierung daher trivial, da dabei
über die Angemessenheit der Zuordnung meiner Zahl
nichts ausgesagt und nichts verlangt wird. Mir erscheint
folgende Bestimmung des Begriffes angemessen: Quantifizieren
bedeutet die Zuordnung von Zahlen zu den Bedeutungsunterschieden
entlang einer untersuchten Dimension, so daß
die Verhältnisse zwischen den Zahlen die Bedeutungsunterschiede
entlang meiner Dimension widerspiegeln.
Siehe dazu auch LOCKOWANDT 1984.
77. Dies ist natürlich nur sinnvoll, wenn ich
von diesem Kriterium schon weiß, daß es
die Persönlichkeits-Struktur des Horoskop-Eigners
angemessen repräsentiert.
78. "Wieso können wir dieselbe harmonische
Fortschreitung im Klanggewand eines Orchesters als
im Klaviersatz identifizie-ren? Die Mechanismen, auf
denen solche für das Erkennen von Bedeutungen
grundlegenden Klassifikationsprozesse beruhen, sind
außerordentlich schwierig zu beschreiben."
(MOTTE-HABER, 1985, 85)
79. "Die Naturwissenschaft ist meinem Gefühl
nach nicht weit genug entwickelt, um sagen zu können,
daß das nicht wahr sein kann - und auch nicht
weit genug entwickelt, um zu sagen, wie es zusammenhängt,
wenn es wahr ist." (WEIZSÄCKER 1976)
80. Mit dem Oszillographen können selbst unhörbare
Nuancen sogar sichtbar gemacht werden, die Digital-Schallplatte
zeigt, daß Musik physikalisch vollständig
quantifizierbar ist.
81. "Im Unterschied zu anderen neueren Lehrbüchern
der Musik- psychologie gehe ich nicht von der Wahrnehmung
der Schall- welle aus, weil diese Lehrbücher
demonstrieren, daß es fast unmöglich ist,
von dieser Basis aus zum Verständnis musikali-scher
Ereignisse fortzuschreiten." (a. a. O., 10)
82. "Zweifellos gibt es die geborenen Psychotherapeuten,
die nicht nur in den suggestiven Techniken, sondern
auch in den aufdeckenden Methoden intuitiv charismatische
Fähigkeiten entwickeln, die nicht lehrbar sind."
(STROTZKA 1975, 5)
83. LOCKOWANDT (1973) hat versucht, den "Prozeß
der Urteilsbildung in der Schriftpsychologie"
transparent zu machen. Seiner Ansicht nach ist das
nicht bewußt "kontrollierte" Denken
geradezu eine Vorbedingung für das Zustandekommen
eines gelungenen Gutachtens (für den Bereich astrologischer
Gutachten siehe dazu auch NIEHENKE 1986a). Zur immer
wieder geäußerten Kritik an solcher Methode
der Urteilsbildung schreibt er: "Man nannte dieses
hypnagoge Denken mystisch und nicht wissenschaftlich.
Dieser Vorwurf ist gänzlich unberechtigt und zeugt
davon, daß seine Urheber die Gesetze des produktiven
Denkens nicht kennen. ... Diese Kritik glaubt nämlich,
Denkprozesse müßten immer unter der strengen
Führung des steuernden und regulierenden Ich verlaufen.
Das ist schon bei einfachen produktiven Denkverläufen
nicht der Fall."
84. Dies ist eine keineswegs triviale Frage. Wir wissen,
daß Einzelaussagen, die aus einem Zusammenhang
gerissen sind, dadurch in ihrem Sinn völlig entstellt
werden können. Ebenso ist es denkbar, daß
erst der Sinnzusammenhang der Gesamtdeutung jeder einzelnen
Aussage ihre ihr zukommende Bedeutung verleiht. Für
das Seelenleben des Menschen ist z. B. der Konflikt
widerstreitender Motive und Impulse typisch: Es ist
mir wichtig, mich mit meinen Bedürfnissen durchzusetzen,
ich möchte aber auch von den anderen geliebt werden.
Bei jeder Einzelaussage könnte ich nur "Jein"
antworten. Die kleinste sinnvolle Einheit für
eine Aussage wäre: Ich bin in einem Konflikt zwischen
... Daher ist, wenn überhaupt, eine Zerlegung
nur möglich, wenn die Einzelaussage wiederum eine
"sinnvolle Ganzheit" (s.u.) darstellt. In
einer solchen Ganzheit steckt aber womöglich "das
Bewußtsein des Gesamtzusammenhangs" schon
drin (Hermeneutischer Zirkel).
85. "Die Natur erklären wir, das Seelenleben
verstehen wir." Zitiert nach REITER (1974, 34)
86. "Um Unklarheiten aus dem Wege zu gehen, gebrauchen
wir den Ausdruck 'Verstehen' immer für das von
innen gewonnene Anschauen des Seelischen. Das Erkennen
objektiver Kausalzusammenhänge, die immer nur
von außen gesehen werden, nennen wir niemals
verstehen, sondern immer 'erklären'." (JASPERS
1948, 24)
" ... würde eine völlige Quantifizierung
der untersuchten Vorgänge voraussetzen, die beim
Seelischen, das seinem Wesen nach immer qualitativ
bleibt, prinzipiell nie möglich ist, ohne den
eigentlichen, nämlich den seelischen Untersuchungsgegenstand,
zu 'verlieren'." (a. a. O., S. 251)
87. Was ich hier "Idee" nenne, heißt
in der Psychologie gewöhnlich "hypothetisches
Konstrukt", um anzudeuten, daß es sich dabei
um einen nicht direkt beobachtbaren Sachverhalt handelt,
den man nur aufgrund der Beobachtung bestimmter konkreter
Verhaltensweisen "erschließen" kann.
Ich setze hier jetzt voraus, daß es zu den Gestalten
meiner Wahrnehmung (den "hypothetischen Konstrukten")
auch korrespondierende Persönlichkeitsmerkmale
der Menschen gibt.
88. Man könnte bezweifeln, ob beide Aspekte dieses
"Vexier-Bildes" überhaupt etwas über
den Beurteilten aussagen, denn beide sind im wesentlichen
(moralische) Bewertungen bestimmter Handlungen. Man
kann jedoch von dieser Bewertung durchaus absehen:
beide Aspekte der Betrachtung beinhalten nicht nur
Bewertungen eines bestimmten Verhaltens, sondern es
sind auch zwei unterschiedliche Verhaltensmuster angesprochen.
Der "Geizhals" wird, wenn sparsamer Umgang
mit Geld für ihn typisch ist, in vielen Situationen
tatsächlich anders reagieren als der "arbeitslose
Familienvater", der vielleicht nur nolens-volens
sparsam mit Geld umgeht.
89. Weitere Aspekte der Problematik von Selbstbeschreibungs-Fragebogen
werden in Kap. 7 im Abschnitt "Das Meßproblem"
erörtert.