Kapitel 3.2: Wissenschaft und Mythos

Wenn man nicht gegen den Verstand verstößt,
kann man überhaupt zu nichts kommen."
Albert Einstein *48

Nehmen wir einmal hypothetisch an, daß das magische Gesetz, daß alles mit allem auf subtile Weise verbunden sei und aufeinander wirke, richtig sei (siehe auch HÜBNER 1985, 345). Ist es möglich, daß sich dieses Gesetz in einer Welt, deren Gegenstände durch "Operationalisierung" konstituiert werden - der "Meßraum" der Sozialwissenschaftler - als "wahr" oder "überprüfbar" erweist?

Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die Aussage nicht "passend" für die Absicht einer Prüfung formuliert ist, also zu unspezifisch und allumfassend ist. Dieses "Gesetz" ist in Wirklichkeit wohl auch eine "Setzung", deren Annahme oder Zurückweisung eine elementare Grundentscheidung darstellt. Es ist eben in Wirklichkeit kein Gesetz, auch keine Hypothese, es ist ein Axiom - man sollte besser sagen: eine zentrale metaphysische Annahme, etwa im Sinne eines "Paradigmas" (KUHN 1979). Und es gab und gibt Völker, für die dieses Axiom eine Plausibilität besitzt, die der Plausibilität der Regeln der Aristotelischen Logik in nichts nachsteht. *49 Wir müssen uns fragen, ob die logische Regel des "Tertium non datur" *50 nicht ebenso "unspezifisch und allumfassend" ist. Sie ist auch nicht "prüfbar". Sie ist eben eine bei uns gängige und gemeinhin akzeptierte "metaphysische Grundannahme", die zudem in der Quantenlogik sogar außer Kraft gesetzt ist (siehe Anm. 41), denn dort gibt es für eine Aussage noch die dritte Möglichkeit, neben wahr oder falsch, nämlich "unbestimmt". (HÜBNER 1978, 171)

Wenn es sich bei dieser Grundregel der Magie nun also um ein Axiom handelt, an dem alles geprüft wird, selbst nicht überprüft (weil auch nicht überprüfbar), aber "plausibel", "vernünftig", dann werden mit Sicherheit andere Gegenstände in dieser Welt "gefunden", andere Zusammenhänge entdeckt, genauso wie nach einem "Paradigma-Wechsel" im Sinne KUHNs *51. Dabei werden vielleicht teilweise andere "Ableitungsregeln" anwendet als die der Logik, andere "Meßinstrumente" entwickelt als die in unseren Wissenschaften gebräuchlichen. (HÜBNER 1985, 257ff)

Obwohl es unseren gewohnten Denkweisen kraß zuwiderläuft, könnte man einige Folgerungen überlegen, die aus der möglichen Angemessenheit oder "Richtigkeit" des gerade beschriebenen Axioms zu ziehen wären. Wenn alles mit allem verbunden ist, so sind auch meine Gedanken und Überzeugungen mit der Welt der körperlichen Objekte verbunden. In einem gewissen Sinn müßten dann meine Gedanken auch direkte Auswirkungen auf die physische Welt haben. Diese Vorstellung, daß Gedanken eine Realität sind bzw. als solche bereits eine Realität schaffen, wird von vielen fernöstlichen Weisheitslehrern vertreten. Daß psychische Sachverhalte "konstellierend" auch in der Welt physischer Objekte "wirken", ist auch die Auffassung von C. G. JUNG, der das Zustandekommen paranormaler Phänomene mit der "anordnend wirkenden Kraft der Archetypen" in Verbindung bringt (JUNG/PAULI 1952).

Der Philosoph EDGE erwägt konsequenterweise bei der Diskussion paranormaler Phänomene die Möglichkeit, daß der Glaube an bestimmte Realitäten möglicherweise diese Realitäten tatsächlich erschafft - und dies meint er nicht metaphorisch -, daß Glaube also die Welt tatsächlich verändert. In bezug auf die Außersinnliche Wahrnehmung (ASW) überlegt er: "Der Glaube an ASW würde diese zum Faktum werden lassen." (1974, 106) Die Tatsache, daß solche Gedankengänge für viele Wissenschaftler an der Grenze des Erträglichen liegen und in Diskussionen zu rüden polemischen Diskreditierungen führen, entwertet diesen Gedanken nicht. LEIBNIZ bezichtigte NEWTON auch, "okkulte Qualitäten" in die Physik einzuführen, die nichteinmal der liebe Gott verstehen könne, als dieser seine Theorie der Gravitation vorstellte *52.

Die radikalsten Folgerungen aus solchen Überlegungen hat bisher FEYERABEND gezogen: Seiner Meinung nach gibt es verschiedene Formen von Erkenntnis, zwischen denen man sich entscheiden muß (1979, 299). Dabei steht die Wissenschaft "dem Mythos viel näher, als eine wissenschaftliche Philosophie zugeben möchte. Sie ist eine der vielen Formen des Denkens, die der Mensch entwickelt hat, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech und fällt auf; grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die sich schon für eine bestimmte Ideologie entschieden haben, oder die die Wissenschaft akzeptiert haben, ohne jemals ihre Vorzüge und Schwächen geprüft zu haben." (a. a. O., 388).

FEYERABEND scheut sich nicht, geheiligte Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens über Bord zu werfen. Er geht so weit, explizit eine Verletzung der Regeln der Logik zu fordern, sogar eine Verletzung des Prinzips, das intuitiv als das einleuchtendste erscheint: Er fordert das Zulassen von Widersprüchen. "Solche Betrachtungen werden gewöhnlich mit dem kindischen Hinweis kritisiert, aus einem Widerspruch folge jede beliebige Aussage." (1979, 36, Anm. 1) *53 Doch "Regeln müssen verletzt werden", denn eine Wissenschaft, die Widersprüche zuläßt, ist "fruchtbarer" (FEYERABEND 1979, 35/36).

Wegen seines unbequem-radikalen In-Frage-Stellens möchten manche Wissenschaftler FEYERABEND gern als Sonderling, als das "enfant terrible" der Wissenschaftstheorie abtun (DUERR 1980 u. 1981). Doch "traditionelle Wissenschaftstheoretiker können ihn nicht links liegen lassen, denn er ist in der Lage, jederzeit äußerst kenntnisreiche und erhellende - oder verletzende - Untersuchungen über Probleme oder Personen zu veröffentlichen." (RAVETZ 1980) "Wenn die Wissenschaftstheorie ihren Sinn überhaupt darin sieht, zum Verständnis wissenschaftlicher Tätigkeit beizutragen, dann verursachen seine Untersuchungen zum Verhalten bedeutender Wissenschaftler durchaus Unbehagen." (ebd. S. 29)

Auch wenn die meisten Wissenschaftstheoretiker nicht so weit gehen und mit FEYERABEND eine "anarchistische Erkenntnistheorie" *54 propagieren - womit FEYERABEND übrigens den ursprünglich sehr positiven Sinn des Wortes Laie wiederherstellt *55 -, so findet man wesentliche Teile seiner Argumentation und seiner Forderungen auch schon früher und bei anderen Autoren *56.

In unserem Zusammenhang ist dabei die von seiner Seite, aber auch anderen Wissenschaftstheoretikern (unterschiedlichster Orientierung) erhobene Forderung nach Öffnung, zumindest aber Toleranz gegenüber mythischen, ja sogar magischen Vorstellungsinhalten von besonderem Interesse (DUERR 1981, FEYERABEND 1979, JANTSCH 1980, HÜBNER 1985, ROMBACH 1974a, 24). Zwar ist nicht jeder in der Lage, der selbst aufgestellten Forderung nach "Universaler Toleranz" in seiner eigenen Argumentation auch treu zu bleiben *57, doch werden auf diese Weise bislang tabuierte, als pseudowissenschaftlich eingeordnete ("und also nicht weiter ernst zu nehmende") Grenzgebiete unseres Wissens in Kreisen der "etablierten Wissenschaften" nach und nach gesellschaftsfähig. (FEYERABEND/THOMAS 1985)

War im antiken Griechenland der "Übergang vom Mythos zum Logos" (ROMBACH 1974, 7) Zeichen eines sich emanzipierenden Menschen, so scheint heute die Relativierung unserer Rationalität durch den Mythos Zeichen einer neuen Stufe der Emanzipation, insofern wir es uns leisten können, die ggf. innovierende Kraft mythischer und magischer Vorstellungen in unser Bemühen um das Veständnis unserer Welt zu integrieren. Der sog. "Übergang vom Mythos zum Logos" bedeutete damals nämlich eigentlich nur die Loslösung vom bloßen "Glauben", dem Weitergeben des Tradierten, und die Hinwendung zum "Begründen", dem "Überzeugen aufgrund von Beweisen" (HIRSCHBERGER 1965, 16). Insofern ist unsere heutige neue Hinwendung zum Mythos auch kein "Rückfall"; denn sie ist ja nicht eine erneute Hinwendung zu "Glauben" und "Weitergeben des Tradierten", sondern beinhaltet hauptsächlich eine alternative Vorstellung über das, "was die Welt im Innersten zusammenhält" (siehe auch HÜBNER 1985, 409ff).

Es ist auffällig, daß gerade Wissenschaftler aus dem Bereich, dessen "erkenntnisleitendes Interesse" nach HABERMAS das technische ist (s.o.), durch ihre neueren Forschungen zu einem Wirklichkeitsbegriff gelangen, der nach Ansicht von HEISENBERG (1972) eine positive Beziehung zu überlieferten Ideen des fernen Ostens hat. Schon NEWTON hatte mit dem quantitativ Faßbaren nur eine methodische Abstraktion im Sinn gehabt und hatte dem Rest die Realität nicht bestreiten wollen (siehe Kapitel 1). Ähnlich scheinen in unserer Zeit Wissenschaftler wie HEISENBERG, PAULI (JUNG/PAULI 1952), EINSTEIN *58 oder WEIZSÄCKER *59 zu denken, ganz abgesehen von den Wissenschaftlern, die man als Exponenten des sog. "New Age" bezeichnen könnte, wie z. B. KOESTLER (1970, 1972), CAPRA (1982), JANTSCH (1979, 1980), DUERR (1981, 1981a), HÜBNER (1985) und, last not least, FEYERABEND.


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